Nationalgeographisch

2023-03-16 17:25:35 By : Mr. Tom Li

Paratiis, in der Stadt Amagasaki nahe Osaka, spricht Kazuko Kori, 89, mit dem Telenoid. Der Androide überträgt die Stimme einer Pflegekraft, die ihn auch fernsteuert. Der Telenoid soll demente Menschen zu Gesprächen stimulieren.

In einem verschlafenen Viertel der Stadt Toyama sind die Straßen menschenleer. Bis an diesem wolkigen Vormittag die festgesetzte Zeit gekommen ist. Eine ältere Frau steckt den Kopf aus der Tür und wirft einen Blick auf die mit traditionellen niedrigen Holzhäusern gesäumte Hauptstraße des Hafenviertels Iwase. Eine andere bewegt sich langsam und vorsichtig in einer schmalen Seitengasse vorwärts. Ein paar Minuten später trudeln zwei kleine Laster ein und bleiben am Straßenrand stehen. Plötzlich kommt Leben ins Viertel. 

Fünf Arbeiter mit orangefarbenen Westen tauchen auf, eilen geschäftig hin und her, stellen Leitkegel auf, verteilen Einkaufskörbe und entschuldigen sich vielmals dafür, dass sie den mobilen Lebensmittelstand Tokushimaru ein oder zwei Meter von seinem üblichen Standort verschoben haben. Sie befördern Lebensmittel vom ersten Wagen zum zweiten. Der verwandelt sich im Nu in einen Minimarkt mit ausklappbaren Regalen und roten Markisen. Die linke Seite für die Kühlwaren ist mit Einzelportionen Fisch und Fleisch, Joghurt, Eiern und anderen leicht verderblichen Waren bestückt. Rechts gibt es frisches Gemüse und Obst, hinten Snacks und Cracker. 

Ein halbes Dutzend Kundinnen, alles ältere Damen, trippelt langsam um den Wagen herum. Miwako Kawakami, eine 87-Jährige mit Bubikopf, gibt einem Mitarbeiter ihren Stock und nimmt sich einen kleinen Korb. Sie kauft Lauch, Karotten, drei Zwiebeln und Milch. Kawakami wohnt in der Nähe, allein. „Es gab mal eine Menge Geschäfte hier, aber jetzt sind alle weg“, sagt sie. „Der Gemüsestand, der Fischstand, die haben alle vor etwa fünf Jahren zugemacht.“ Gebückt und ein wenig unsicher läuft sie über die Straße, ihrer 86-jährigen Nachbarin entgegen, die ihr beim Tragen der Einkäufe hilft.

Iwase ist verwaist. Die Jungen sind fortgegangen. Diejenigen, die geblieben sind, werden immer älter. Diese Dynamik zeigt sich überall in Japan, während die Geburtenrate seit Jahrzehnten sinkt. Die Bevölkerungszahl war 2010 mit 128 Millionen Einwohnern auf dem Höhepunkt. Jetzt liegt sie bei unter 125 Millionen und wird voraussichtlich in den nächsten vier Jahrzehnten weiter abnehmen. Gleichzeitig leben die Japaner immer länger – die Frauen durchschnittlich 87,6 Jahre, die Männer 81,5 Jahre. Abgesehen von der Bevölkerung des kleinen Stadtstaats Monaco ist die japanische Bevölkerung die älteste der Welt. 

Diese demografische Veränderung ist längst erkennbar. Das zunehmende Ungleichgewicht von immer mehr Senioren und immer weniger jungen Menschen verändert jeden Aspekt des Lebens in Japan, vom Straßenbild bis zur Sozialpolitik, von Geschäftsstrategien bis zum Arbeitsmarkt, von öffentlichen bis zu privaten Räumen. Japan wird zu einem Land, das auf die Alten zugeschnitten ist und von ihnen dominiert wird. Die Entwicklung in Japan lässt ahnen, was auf viele Regionen der Welt zukommt. Deutschland, China, Südkorea und Italien entwickeln sich in eine ähnliche Richtung. 

Der Arzt Osamu Yamanaka, 67, leitet eine Klinik in Kotobukicho, einem heruntergekommenen Viertel von Yokohama. Regelmäßig besucht er ältere Patienten wie den 74-jährigen Kiichi Takahashi. 

Vor fünf Jahren erreichte die Welt einen beunruhigenden Wendepunkt: Erstmals in der Geschichte gab es mehr Erwachsene von 65 Jahren und älter als Kinder unter fünf Jahren. Das Altern der Gesellschaft wird das soziale Gefüge verändern – sichtbar wie auch unter der Oberfläche. Das ist keine kleine Herausforderung, doch muss sie nicht bedeuten, dass es zwangsläufig bergab geht. Japans Erfahrungen, mit dem landestypischen Blick für Details und Gestaltung, zeigen, dass die starke Alterung eine Ära der Innovation einläuten könnte. Im Jahr 2020 richtete das japanische Gesundheitsministerium acht Reallabore ein, in denen Pflegeroboter getestet werden. In gewisser Weise ist das ganze Land ein lebendes Reallabor, das zu den Auswirkungen einer rasch alternden Gesellschaft forscht. Im Geschäftsleben, in der akademischen Welt und in den Kommunen – überall in Japan laufen unzählige Experimente. Sie zielen darauf ab, die Alten so lange wie möglich gesund zu erhalten und die Last der Pflege der Schwächsten in der Gesellschaft zu erleichtern. 

Osama Yamanaka möchte einsames Sterben verhindern. Mehrere Male in der Woche verlässt der 67-jährige Arzt seine Klinik in Yokohama und besucht die Senioren, die allein in heruntergekommenen Einzimmer-Wohneinheiten in Kotobukicho leben. Das ärmliche Viertel entstand während des Baubooms nach dem Krieg, um Tagelöhner unterzubringen. Heute beherbergt es alternde Sozialhilfeempfänger und „Menschen, die aus dem einen oder anderen Grund nicht am sozialen Leben teilhaben“, sagt Yamanaka – Alkoholiker, geistig Behinderte, Haftentlassene. 

Einer seiner Besuche gilt dem 83-jährigen früheren Bauarbeiter Seiji Yamazaki. Aus Gewohnheit meidet Yamanaka den Lift und steigt zügig und ohne Verschnaufpause die sieben Stockwerke hinauf. Er trägt die abgewetzte schwarze Tasche, die seinem Vater gehörte, der ebenfalls Arzt war. Sein Patient liegt in einem Krankenbett, eine Hand zur Faust gekrümmt. Außer dem Bett gibt es in dem engen Raum noch einen Mini-Kühlschrank, eine Mikrowelle, eine Sammlung von Winnie-Puuh-Plüschfiguren und sonst nur wenig andere Dinge. „Mir ist schwindelig“, sagt Yamazaki. „Wie ist denn mein Blutdruck?“ Yamanaka checkt die Vitalfunktionen des bettlägerigen Patienten. Er versichert ihm, dass er die Medikation überprüfen werde, und schaut sich die Besucherliste an. 

Der Pflegedienst kommt täglich, bringt Essen, verabreicht Medizin und wechselt Windeln. Japans Pflegeversicherungssystem gehört weltweit zu den großzügigsten. Für Yamazakis Bedürfnisse ist gut gesorgt. Verglichen mit Menschen in anderen Industrieländern erhalten die Japaner wesentlich mehr Leistungen, als sie an Steuern und Versicherungsprämien einzahlen. Das Programm bezuschusst zwischen 70 und 100 Prozent der Altenpflege, je nach Einkommen. Vor der Einführung dieses Systems im Jahr 2000 kamen kranke Senioren ins Krankenhaus und blieben dort bis zu ihrem Tod. Jetzt sterben sie eher zu Hause. 

Doch das System steht unter Druck. Es gibt bereits einen Mangel an Pflegekräften. Die Regierung schätzt, dass das Land bis 2040 weitere 700000 Menschen im Pflegebereich brauchen wird. Zu den Lösungsvorschlägen gehören Lohnerhöhungen, die Anwerbung von Rentnern und Ehrenamtlichen, die Förderung von Pflege als Berufsfeld, der Einsatz von Robotertechnik und – an letzter Stelle und wahrscheinlich weiterhin als letzter Ausweg – die Bewilligung von mehr ausländischen Arbeitskräften. Immigranten aus Ländern wie Vietnam und den Philippinen arbeiten in Pflegeheimen, doch es gibt eine strenge Obergrenze für die Anzahl von Visa für Fachkräfte. Der Inselcharakter Japans und die schwierig zu erlernende Sprache machen es ausländischen Arbeitskräften zusätzlich schwer.

Unterdessen steigen die Kosten sprunghaft an. Sozialversicherungsausgaben, zu denen öffentliche Gesundheitsversorgung, Langzeitpflege und Rentenzahlungen gehören, haben sich zwischen 1990 und 2022 verdreifacht, finanziert durch Staatsschulden. „Das universelle System, das wir eingeführt haben, hat viele Vorteile, und die Menschen sind daran gewöhnt“, sagt Hirotaka Unami, ein hochrangiger Berater von Premierminister Fumio Kishida. „Um das beizubehalten, müssen wir das Gleichgewicht zwischen Leistungen und Kosten wiederherstellen.“ 

Zur Lösung gehören für Unami vier Komponenten: schnelleres Wirtschaftswachstum, Arbeitsanreize für Frauen und ältere Menschen, eine höhere Mehrwertsteuer und die Begrenzung von Sozialversicherungsausgaben. Das sind gewaltige Aufgaben. Wirtschaftswachstum kann nicht nach Belieben gesteuert werden. Steuererhöhungen sind unpopulär: Mehr als 70 Prozent der Japanerinnen unter 65 arbeiten bereits, allerdings wegen der schlecht ausgebauten Kinderbetreuung meist in Teilzeit. Auch finanziell gibt es wenig Anreize – so werden etwa Frauen schlechter bezahlt als Männer. Die Regierung versucht, das Renteneintrittsalter von 65 Jahren zu erhöhen, dabei arbeiten die Menschen ohnehin schon länger. Im Jahr 2021 ließ ein Drittel der japanischen Unternehmen ihre Angestellten auch nach dem 70. Lebensjahr weiterarbeiten; 2016 waren es nur 21 Prozent. Im Jahr 2050 werden schätzungsweise fast 38 Prozent der japanischen Bevölkerung 65 Jahre und älter sein. Das wird einen enormen Druck auf die erwerbstätige Bevölkerung ausüben. „Ich glaube nicht, dass wir gute Antworten haben“, sagt Sagiri Kitao, Ökonomin an der Universität Tokio. 

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