Dramatische Szenen haben sich am zweiten Verhandlungstag am Landgericht Ravensburg im Mordprozess gegen einen 32-jährigen Nigerianer abgespielt. Der Angeklagte soll im Juni vergangenen Jahres in einer Asylbewerberunterkunft in Kressbronn einen 40-jährigen Mann erstochen und sechs weitere Menschen teils lebensgefährlich verletzt haben.
Kurz nachdem der 15-jährige Neffe des getöteten Syrers am Dienstag zum Abschluss eines fast zehnstündigen Verhandlungsmarathons zu den Geschehnissen am Abend des 26. Juni 2022 ausgesagt hatte, griff er sich seinen Stuhl und warf ihn in Richtung des Angeklagten.
Neun Stunden wartete der 15-Jährige vor der Tür von Saal 1 im Landgericht Ravensburg, um als letzter von neun Zeugen an diesem Tag zu berichten, was sich an jenem heißen Frühsommerabend in und rund um die Asylbewerberunterkunft an der Argenstraße abgespielt haben soll. Er tat es erstaunlich gefasst, ohne sich anmerken zu lassen, was tief in ihm vorgeht. Der junge Syrer schilderte, wie sein Onkel ins Haus geeilt war, nachdem sie von drinnen Schreie gehört hatten.
Wie er zusammen mit einem Freund in ein Nachbarhaus geflohen und später zurückgekehrt war und seinen Onkel, der zwischenzeitlich vier Kinder von Mitbewohnern in Sicherheit gebracht hatte, tot am Boden vor der Unterkunft liegen sah. Dass der Mann, der nach gemeinsamer Flucht aus der Türkei eine Art Ersatzvater geworden war, tatsächlich nicht mehr am Leben war, „das ist mir nicht in den Kopf reingegangen‟, sagte er vor Gericht. Auch in den Wochen danach: „Ich habe jede Nacht von ihm geträumt und geglaubt, dass er noch lebt.‟
Als der Vorsitzende Richter Veiko Böhm den Zeugen bereits entlassen hatte und zum Abschluss des langen Verhandlungstags noch einige Formalitäten bekannt gab, sprang der 15-Jährige plötzlich auf, griff sich seinen Stuhl und schleuderte ihn, begleitet von Schimpftiraden, Richtung Anklagebank. Die Scheibe der Corona-Schutzwand ging zu Bruch, der Angeklagte blieb aber unversehrt.
Einzelne Männer sprangen von ihren Zuhörerplätzen auf und versuchten, nach vorne zu stürmen. Justizbeamte hinderten sie allerdings daran und hatten die Situation innerhalb weniger Sekunden unter Kontrolle. Nach kurzer Schockstille im Saal machte Richter Böhm unmissverständlich klar, dass er ein solches Verhalten nicht dulde und im Wiederholungsfall die Öffentlichkeit von der weiteren Verhandlung ausschließen werde.
Es war nicht die einzige Szene, die an diesem Verhandlungstag für Aufsehen sorgte. Eine Zeugin, die am Abend der Bluttat vor den Augen ihrer drei und sechs Jahre alten Töchter schwer verletzt worden war, war zuvor auf dem Weg in den Zeugenstand beim Anblick des Angeklagten schreiend zusammengebrochen.
Nach einer kurzen Unterbrechung rief Richter Böhm zunächst den Ehemann der Frau in den Zeugenstand, bevor sie dann doch auch selbst noch aussagte. Der Angeklagte wurde dafür nochmal kurz aus dem Saal geführt. Erst als die Zeugin Platz genommen hatte, wurde er wieder hineingebracht. Die Aussage der 30-jährigen Frau verfolgte er von einem Platz ganz hinten im Saal, außerhalb des Blickfelds der Zeugin.
Insgesamt neun Zeugen hatte das Gericht zu diesem zweiten Verhandlungstag geladen – allesamt Bewohner oder Besucher der Unterkunft in Kressbronn, die einen Teil der Messerattacken beobachtet hatten oder selbst verletzt worden waren. Sie alle sollten in erster Linie dazu beitragen, den Ablauf der Bluttat möglichst genau zu rekonstruieren. Aber auch Hinweise auf mögliche Tatmotive des Angeklagten versprach sich das Gericht von ihren Aussagen. Allzu viel Erhellendes ergab sich dazu allerdings nicht.
Ein anderer Afrikaner, der damals in der Unterkunft in Kressbronn lebte und hin und wieder auf ein Bier mit dem Angeklagten zusammensaß, sprach zwar immer wieder davon, dass die anderen Bewohner dem 32-jährigen Nigerianer „viele Probleme‟ bereitet hätten. Viel mehr als Beschwerden über zu lautes Musikhören und als störend empfundene Blicke in Kochtöpfe scheint es allerdings nicht gegeben zu haben.
Nachdem der Angeklagte am Abend des 26. Juni sein erstes Opfer attackiert haben soll, eine 35-jährige Iranerin, soll der Zeuge ihn zunächst davon abgehalten haben, weiter auf die Frau einzustechen, direkt danach aber wieder in sein Zimmer zurückgekehrt sein – während der Angeklagte mit einem Küchenmesser weitere Menschen angegriffen haben soll.
Bitte bestrafen Sie diesen Mann so hart Sie können.
Was im Lauf des zweiten Verhandlungstags sehr deutlich wurde: Der Abend des 26. Juni 2022 hat bei allen, die dabei waren, tiefe Wunden in der Psyche hinterlassen. Insbesondere natürlich bei den Opfern, aber auch bei den Beobachtern, die körperlich unversehrt blieben – ob Mann oder Frau, Erwachsene oder Kinder. Fast alle Zeugen berichteten von nach wie vor anhaltenden Angstzuständen und Alpträumen – und davon, dass sie sich kaum noch aus dem Haus trauen.
„Bitte bestrafen Sie diesen Mann so hart Sie können. Unsere Kinder werden das niemals vergessen‟, appellierte die 30-jährige Frau, die vor den Augen ihrer beiden Töchter niedergestochen worden war. Sie selbst hatte den Messerangriff nur dank einer Not-OP im Klinikum Friedrichshafen überlebt, gab vor Gericht aber zu verstehen, dass die Verletzungen im Kopf die schlimmsten seien: „Ich habe das Gefühl, dass mein Gehirn nicht mehr richtig funktioniert.‟
Zweifel daran, dass der Mann auf der Anklagebank der Angreifer war, äußerte keiner der Zeugen. Der Ehemann der 30-jährigen Frau berichtete sogar von Anzeichen, die dafür sprechen könnten, dass der 32-Jährige aus Nigeria die Bluttat wirklich geplant hat. In der Woche davor habe der Mann auffallend intensiv trainiert – mit Klimmzügen, Seilspringen und Kraftübungen mit Steinen als Hanteln – und seine arabischstämmigen Mitbewohner immer wieder mit Blicken fixiert, die nach Deutung des Zeugen klarmachen sollten: „Euch erwartet noch etwas.‟