Wie Plüschtiere mit großen, traurigen Augen traumatisierten Ukrainern helfen

2023-03-16 17:07:13 By : Mr. Kevin Fu

Zehn Millionen Ukrainer sind ein Jahr nach dem russischen Angriff an Körper und Seele verletzt. Die Widerstandskraft ist ungebrochen. Aber der Preis ist hoch.

Ilia ist verschwunden. Ilia, der Soldat. Und dieses Mal scheint es für immer zu sein. Dariia Tsykunova schildert die Trennung von ihrem Freund wortkarg. Sie redet lieber darüber, wie sie versucht hat, anderen zu helfen. Bis sie selbst zusammenbrach. Die 23-Jährige gründete im Frühjahr 2022 mit Ehefrauen und Lebenspartnerinnen den Verband der Familien der Verteidiger des Asowstahlwerks. Da war der Krieg ein paar Wochen alt.

Die ukrainischen Verteidiger wie Ilia und Zivilisten aus Mariupol zogen sich Mitte April in das Hüttenwerk des Stahlkonzerns Metinvest mit seinen Bunkeranlagen aus dem Kalten Krieg zurück. Circa 3500 Menschen harrten bis zum 20. Mai in einem unterirdischen Labyrinth von Tunneln in der Dunkelheit aus. Die russische Armee hatte das Stahlwerk eingekesselt. Die Russen bombardierten es über Wochen pausenlos, bis der Widerstand brach. Dann verschleppten sie die Überlebenden auf ihr Staatsgebiet. Von vielen fehlt bis heute jedes Lebenszeichen.

Die Verteidiger in den Tunneln tranken ölverseuchtes Wasser aus Pfützen. Sie teilten die Lebensmittel unter sich auf, jeden Tag weniger. Den verbliebenen Ärzten gingen die Medikamente und das Verbandsmaterial aus. Der Gestank faulender Wunden mischte sich mit dem von Blut und Exkrementen und Angstschweiß von Tausenden.

Dariia Tsykunova erfuhr nichts davon aus den Textnachrichten, die Ilia ab und zu mit dem Smartphone aus seinem Verließ absetzen konnte. Ihr Bild von der Hölle unter Mariupol habe sich Stück für Stück aus den Gesprächen mit Frauen und Freundinnen anderer Kämpfer zusammengesetzt, sagt sie. Ihre Männer schilderten ihnen am Handy, wie schlecht es ihnen ging. Anders als Ilia; er verschwieg die Lage. „Ich vermute, er wollte mich beschützen. Aber wir sind auch erst kurz vor dem Krieg zusammengekommen. Wir hatten noch nicht das Vertrauen wie nach zehn Jahren Ehe“, sagt sie.

Tsykunova verliebte sich Anfang 2022 in den Kämpfer Illia Samoilenko. Sie kannten sich da schon eine Weile, hingen in den gleichen Kneipen und Clubs im Kiewer Szeneviertel Podil ab. Ilia fiel auf in den LGBT-freundlichen Safe Spaces mit Regenbogenfahnen und viel Glitter. Er hat ein Glasauge und ein künstliches Armgelenk. Er verlor den Arm und das Auge als Kämpfer des Asow-Regiments im Donbass nach Beginn des Krieges 2014. „Er hat mir erst nach einer Weile erzählt, dass er ein Asow-Kämpfer ist. Ich glaubte, das sind brutale Typen, die rechts eingestellt sind. Aber das war Ilia nicht“, sagt sie.

Das Asow-Regiment hat seinen Namen wie das Stahlwerk in Mariupol vom Asowschen Meer, es kämpfte im daran gelegenen Donbass. Es ist bis heute eine umstrittene Einheit. Das Regiment dient Russland als Beleg für die These vom Naziregime in der Ukraine.

Die Truppe freiwilliger Kämpfer bot auch Ukrainern Anlass zum Stirnrunzeln. Sie trat 2014 mit einem Abzeichen an, das eine blaue Wolfsangel auf gelbem Grund zeigt. Die Wolfsangel wurde auch von Einheiten der SS verwendet. Die Ukraine unterstellte Asow dem Innenministerium und gliederte das Regiment in die Nationalgarde ein. Politische Agitation ist in den ukrainischen Streitkräften verboten. Ukrainische Kritiker geißelten die Truppe 2014 als Gefahr für die junge Demokratie. Inzwischen sehen selbst frühere Gegner in ihr eine politisch entgiftete Eliteeinheit, die mit der ursprünglichen Bewegung nichts mehr zu tun hat.

Zweifel an den Asow-Kämpfern gab es lange in den linksliberalen Kreisen der ukrainischen Hauptstadt. Die Welt der Kämpfer, die schon Jahre vor dem 24. Februar 2022 in den Schützengräben im Osten lagen, schien ohnehin Lichtjahre entfernt von Kiew. Die ukrainische Hauptstadt war in den vergangenen Jahren dabei, sich als neues Berlin zu erfinden, wild, unersättlich und hedonistisch.

Ryanair flog vor den Wochenenden Technojünger aus ganz Europa nach Kiew. Sie hofften, genderneutral und schrill genug gekleidet Einlass zu finden in den Club ohne Namen an der Kirillowskaja Straße. Ein bis heute unbekannter Mäzen hatte in einer ehemaligen Bierfabrik in Kiew ein Labyrinth von Tunneln der anderen Art geschaffen. Hier war es nicht kalt unter der Erde, sondern schweißtreibend warm von der Hitze der Tanzenden im kollektiven Drogenrausch. Die sexpositive Berliner Partyreihe „Pornceptual“ gastierte noch am 29. Januar 2022 im Club ohne Namen in Kiew. Die Tanzflächen und Darkrooms dienten einen Monat später als Bunker.

Dariia Tsykunonva erinnert sich an die wilde Zeit in Kiew vor den Bomben. Sie spricht von Schuldgefühlen. Die Kiewer hätten in einer Wohlfühlblase gelebt, seien am 24. Februar von einem Krieg „überrascht“ worden, der 2014 begonnen hat. „Wir haben uns nicht für den Osten interessiert. Oder für die Männer, die dort kämpfen“, sagt sie. Männer wie ihr Freund Ilia.

Dariia Tsykunova sah Illia erst im Herbst 2022 wieder. Er wurde Ende September mit anderen Kämpfern aus Mariupol gegen russische Kriegsgefangene ausgetauscht. Lange Haare habe er gehabt, einen Bart, körperlich sei er in Ordnung gewesen, erinnert sie sich. Andere ukrainische Gefangene hätte dagegen ausgesehen wie Skelette.

Ilia habe sich im ersten Gespräch mit ihr nach praktischen Dingen erkundigt, wollte zum Beispiel wissen, ob seine Wohnung noch angemietet sei. Dann sei er abgetaucht, habe einen neuen Job bei den Streitkräften angefangen. „Nach ein paar Wochen ist der Kontakt zwischen uns abgebrochen“, sagt sie. Dariia Tsykunova erlitt im Oktober einen Burnout.

Wie blickt sie auf die aufreibende Zeit als Aktivistin für die Eingeschlossenen und Verschleppten aus dem Asowstahlwerk zurück? Hat sich der Kampf für die Freilassung Ilias gelohnt, die mit Zurückweisung endete?

Es gehe ihr längst nicht mehr nur um Ilia, sagt sie. „Es gibt so viele Familien in der Ukraine, die nicht wissen, wo ihre Männer sind und wie es ihnen in der Gefangenschaft geht. Deshalb mache ich auch in unserem Verband weiter“, sagt sie. Illia habe ihr einmal auf eine Nachricht, dass sie ihn vermisse, geantwortet: „Und ich habe zehn Kilo verloren.“ – „Er wollte mir damit sagen, dass es Schlimmeres gibt als meine romantische Krise“, sagt sie.

Würde der Krieg heute enden, müsste die Ukraine sich um eine Million Kriegsveteranen wie Ilia kümmern, sagt Iryna Shamraiva vom ukrainischen Innenministerium. „Hinzu kämen ihre Familien, wir schätzen den Kreis auf rund vier Millionen“, sagt sie. Und mindestens sechs Millionen Zivilisten bräuchten wie die Veteranen eine gesundheitliche und psychosoziale Betreuung. Vertriebene und Ausgebombte, aber auch Menschen, die den seelischen Belastungen durch den Krieg nicht mehr gewachsen seien, zählten zu diesem Kreis. Insgesamt zehn von 44 Millionen Menschen seien ein Jahr nach dem russischen Überfall an Körper oder Seele verletzt, schätzt sie.

Iryna Shamraiva arbeitet mit Psychologen aus dem ganzen Land an einem Konzept, das der Flut an menschlichem Leid etwas entgegensetzen soll. Genügend Therapeuten zur Heilung der nationalen Wunde gibt es nicht im Land. Die Behörden setzen auf Freiwillige aus der Zivilgesellschaft.

Sie sollen mit therapeutischen Grundkenntnissen ausgestattet werden und jenen helfen, denen eine kurzfristige Intervention genügt, um aus einer Krise zu kommen. Von den zehn Millionen, die derzeit litten, könnten aber bis zu 20 Prozent bereits ernsthaft psychisch erkrankt sein, schätzt sie.

Hinzu kämen Soldaten und Zivilisten, die körperlich gezeichnet seien. Die Zahl der Kriegsinvaliden sei schwer zu bestimmen, da sie von Tag zu Tag steige, sagt die Regierungsvertreterin. „Eines ist sicher, wir werden ein Land sein, in dem der Anblick von Menschen in Rollstühlen oder mit künstlichen Gelenken normal sein wird“, sagt sie. Doch wie das einem Land gelingen soll, in einem Krieg, der alle Mittel für die Verteidigung frisst, verrät sie nicht.

Ivan wuchtet seinen muskulösen Körper bei Klimmzügen an einer Stange in die Höhe. Seine linke Wade würde jeden Fußballer vor Neid erblassen lassen. Von der rechten Wade des 27-Jährigen ist nur noch ein von Narbengewebe überwucherter Krater übrig. Der Soldat will seinen vollen Namen nicht nennen, da er noch im Dienst ist.

Er wischt auf dem Display seines Smartphones und zeigt die Aufnahmen aus der Klinik, die er abfotografiert hat. Die Kugel zerfetzte zunächst die rechte Wade und drang dann in den linken Oberschenkel ein. Das Geschoss zerschmetterte den Knochen. Die Ärzte entfernten die Splitter und ersetzten den Knochen durch einen Metallstab. Ivan zieht beim Gehen das linke Bein leicht hinterher. Ansonsten ist ihm nicht anzusehen, dass nur noch ein Stück Metall das Bein knieaufwärts mit dem Torso verbindet.

Der Soldat kräftigt seine Oberarme in einem von der amerikanischen Organisation Revived Soldiers finanzierten Rehazentrum im Kiewer Vorort Irpin. Es eröffnete bereits 2019. Damals ahnte niemand, dass Irpin selbst einmal Schauplätz blutiger Kämpfe während der Schlacht um Kiew bis Ende März 2022 werden würde.

Ukrainische Soldaten sollen in dem Rehazentrum in Irpin nach Kopf- oder Wirbelsäulenverletzungen wieder lernen, sich zu bewegen. Oder mit künstlichen Arm- und Fußgelenken klarzukommen nach Amputationen.

Tetiana Grubeniuk leitet das Zentrum in Irpin. Sie entscheidet, welcher Soldat auf Kosten der amerikanischen Unterstützer Aufnahme findet. Das falle ihr schwer, sagt sie. „Es sind zu viele Anfragen für unser Team. Und wir haben nur fünf Spezialisten hier.“ Oft lasse sich medizinisch kaum abwägen, wer die Hilfe dringender benötige.

Sie kritisiert die staatlichen Hilfen für verletzte Soldaten als zu kompliziert. Die Bürokratie sei zu langsam. Und: „Es fehlt an Plätzen in den staatlichen Einrichtungen.“

Dmytro Triboy war Sprachtherapeut, bevor er 2019 in den noch auf den Donbass beschränkten Krieg zog. Eine Kugel explodierte in seinem Gehirn, und der Therapeut, der anderen bei Sprachproblemen half, konnte nicht mehr sprechen. Es habe Jahre gedauert, bis er ganze Sätze artikulieren konnte, und auch heute fielen ihm nicht alle Worte ein, erzählt der Veteran.

Er ist jetzt 33 und Frührentner. Und versucht dennoch so gut wie möglich, den Versehrten im Rehazentrum in Irpin zu erklären, dass ihr Leben mit Lähmungen oder nur noch einem Bein oder Arm nicht verpfuscht sei. „Ich will ihnen zeigen, dass vieles möglich ist. Selbst wenn dir eine Kugel im Kopf gesteckt hat“, sagt er. Triboy berichtet, dass er als Frührentner bei seiner Mutter lebe. Nachdem er seine Sprache verloren hatte, brach der Kontakt zu Freunden und Kollegen ab.

Vor dem 24. Februar 2022 war es in Kiew und anderen von den Kämpfen verschonten Regionen der Ukraine noch möglich, den im Osten Versehrten aus dem Weg zu gehen. Das ändert sich mit jedem Kriegstag mehr.

Auf die Frage, wie es ihnen ein Jahr nach Kriegsausbruch gehe, antworten viele Kiewer mit einer Geste. Sie gähnen und halten die Hand vor den Mund. Die Luftalarme leeren die Cafés und Geschäfte schon lange nicht mehr. Der Krieg scheint Teil des Alltags geworden zu sein. Die Menschen wirken unbeeindruckt. Wenn man nachfragt, sagen viele, sie seien erschöpft.

Die Psychotherapeutin Yulya Zhdanovich erklärt, was ein Jahr Krieg in den Gehirnen der Menschen anrichtet. Die Anspannung verlaufe unter einer Wahrnehmungsschwelle, weil sie längst von Dauer ist. Doch das Übermaß an Stresshormonen lasse keinen tiefen Schlaf mehr zu. Erholung fällt immer schwerer. „Wenn kein Ausweg aus dem Stress in Sicht ist, dann droht eine Depression“, sagt Zhdanovich. Ein Ausweg aus dem Stress, das wäre in der Ukraine das Ende des Schrillens der Sirenen.

Yulya Zhdanovich behandelt Kinder, aber auch Erwachsene kostenlos in ihrer Praxis im Kiewer Bezirk Obolon mit einem an die israelische Hibuki-Therapie angelehnten Ansatz. Bei Hibukis handelt es sich um Plüschhunde. Sie schauen so traurig, dass einem das Herz aufgeht und sind gleichzeitig zum Knuddeln süß. Wer Angst hat, kann sich mit dem Hibuki identifizieren und findet Trost. Der kleine Plüschhund soll so den Gefühlen einen Weg bahnen.

Es braucht für die Hibuki-Therapie eigentlich patentierte Plüschtiere aus Israel. Zhdanovich und ihre Kollegen haben das Konzept an die Realität in der Ukraine angepasst. „Wir benutzen gewöhnliche Kuscheltiere. Damit können wir einen ähnlichen Effekt erreichen“, sagt die Therapeutin.

Therapeuten in der Ukraine behandeln traumatisierte Erwachsene und vor allem Kinder nun überall in der Ukraine mit Plüschtieren. Zhdanovich hat sich auch selbst einen Teddybär gekauft. Sie nimmt ihn jeden Abend nach Therapiesitzungen und der Freiwilligenarbeit in den Arm. Dann fühlt sie sich für einen Moment beschützt.